Hat sich irgendwas geändert? Münchner Bündnis gegen Naziterror zieht erste NSU-Bilanz

Nach etwas über zwei Jahren nach der Selbstenttarnung des „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) lud das „Münchner Bündnis gegen Naziterror und Rassismus“ zur Diskussion über die Folgen der Aufdeckung der rassistischen Mordserie. Über 250 Interessierte füllten den Saal im Gewerkschaftshaus komplett. Es diskutierten der Autor und Journalist Andreas Speit (taz), Journalist Sebastian Schmidt von NSU Watch und Dr. Juliane Karakayali, Professorin für Soziologie aus Berlin.
Sebastian Schmidt (NSU Watch) informierte zunächst über den Stand des seit etwa einem halben Jahr laufenden Verfahrenes gegen Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben und den drei weiteren Angeklagten. Die Beweisaufnahme zu der rassistischen Mordserie und dem Brand in der Frühlingsstraße sei weitestgehend abgeschlossen. In den nächsten Tagen wird sich der Prozess dem Mord an der Polizistin Kiesewetter in Heilbronn widmen, dessen Einordnung bisher die meisten Schwierigkeiten bereitet und um den sich viele Verschwörungstheorien ranken.
Nicht behandelt wurden bisher die Banküberfälle und die zur Last gelegten Sprengstoffanschläge. Das Verfahren, so Schmidt, sei völlig aus dem Zeitplan geraten. Grund sei eine völlig unrealistische Ladungsplanung von Seiten des Gerichts. So seien beispielsweise für den NPD-Landtagsabgeordneten aus Mecklenburg-Vorpommern, David Petereit, nur fünfzehn Minuten eingeplant. Das von Petereit zeitweise verantwortete Magazin «Der Weisse Wolf» hatte mutmaßlich von den drei Terroristen eine Geldspende erhalten. In dem Vorwort der Ausgabe 1/2002 sprach man der Gruppierung dafür Dank aus.
Ausgesagt haben im Gegensatz zu Petereit bereits viele Verwandte des Trios, Reisebekanntschaften, Nachbarn und einige Neonazis. Eine Aufklärung des gesamten NSU-Komplexes könne der Prozess auf alle Fälle nicht leisten. Verhandelt werde nur über die in der Anklageschrift aufgeführten Taten. Bemühungen der Nebenklage, den Fokus auch auf das noch nicht angeklagte Unterstützerumfeld zu legen, würden von der Kammer und der Generalbundesanwaltschaft immer wieder abgeblockt.
Für die Beantwortung der Frage, ob der Prozess etwas verändert hätte, sei es noch viel zu früh. Das Verfahren könne auch nicht die sozialen und politischen Aspekte der Mord- und Gewaltserie behandeln und die gesellschaftlich umkämpfte Frage beantworten, wer oder was der NSU nun denn eigentlich war. Immerhin habe der Prozess mit dem Nürnberger Taschenlampenanschlag neue Erkenntnis geliefert. Auch wisse man jetzt, dass sich der im Zeugenschutzprogramm befindliche Holger G. unter den Augen des BKA mit Zeugen treffen und Kontakte unterhalten könne, so Schmidt, was in der Medienlandschaft kaum thematisiert worden wäre.
Der Autor Andreas Speit richtete seinen Blick vor allem auf die Untersuchungsausschüsse im Bund und in den einzelnen Landtagen. Der Untersuchungsausschuss des Bundes sei zunächst nicht erwünscht gewesen, die Aufklärung sollte nur im Parlamentarischen Kontrollgremium stattfinden. Das Gremium liefere, so Speit, aber eher Abschottung statt Antworten. Diese Tendenz sei mit Blick auf andere Themen auch durch das Versagen der Geheimdienste und Sicherheitsbehörden nicht gebrochen worden und es fehle dort weiterhin massiv an Kontrolle.
Der Ausschuss in Berlin hätte dann aber durch seine weite Fragestellung – vom Versagen der Polizei bis zum Leid der Opfer – die meisten Erkenntnisse geliefert und in seinem Abschlussbericht dann auch eindeutige Einschätzungen getätigt und teilweise Verschwörungstheorien vorgebeugt.
Das Gremium habe Belege zu Tage gefördert, die dann unter dem Stichwort „Mangelnde Analysefähigkeiten“ der Sicherheitsbehörden Eingang in die Berichte fanden. In Jena bewertete man das Trio als „junge Leute, die Blödsinn in einer Garage machen.“ Der Zeitgeist der Behörden im Kontext der Extremismustheorie habe in
Neonazis und Kameradschaftsaktivisten oftmals nur „fehlgeleitete Jugendliche“ gesehen, die in „losen Zusammenschlüssen“ (Kameradschaften) „nicht einer Ideologie, sondern nur Launen“ folgen würden.
Im Gegensatz zum Ausschuss im Bund zeichne sich das Gremium in Sachsen durch „fehlende Eigeninitiative aus“. Man habe den Ausschuss drängen müssen, auch über „Blood and Honour“ zu sprechen, obwohl es gerade die Strukturen waren, die die drei Untergetauchten anfangs mit Waffen, Wohnung und Geld versorgt hätten. Die NPD im Ausschuss nutzte die fehlende Transparenz der Geheimdienste immer wieder für Alibis, um „Distanz zum NSU“ zu schaffen, obwohl ihr früherer Stellv. Landesvorsitzender Ralf Wohlleben in München auf der Anklagebank sitzt.
Der Untersuchungsausschuss in München habe zumindest deutliche Belege zu Tage gefördert, wie engstirnig die Polizei damals ermittelt habe. Nach dem Mord in Nürnberg 2005 in Nürnberg hätten belastbare Zeugenaussagen Hinweise auf eine Verbindung zum Bombenanschlag in Köln geliefert, die sich aber nicht in ernsthaften Ermittlungen in diese Richtung niedergeschlagen hätten.
Der medial wenig beachtete Ausschuss in Thüringen liefere immer wieder Belege, wie Behörden Verantwortung gerne auf andere abwälzen, weshalb es immer wieder zwischen den Verantwortlichen „kracht und scheppert“. Da sei angesichts der Fehlleistungen auch wenig verwunderlich, wenn z.B. Oberstaatsanwälte nicht mehr erklären könnten, warum man Böhnhardt trotz des Fundes von Sprengstoff in der Garage einfach mit dem Auto habe davonfahren lassen.
Für notwendig hielt Speit einen Untersuchungsausschuss in Baden-Württemberg. Es sei zudem bedauerlich, dass die Diskussionen um den Umbau des Verfassungsschutzes und vor allem das V-Leute-Wesen momentan komplett verstummt seien. Die Auswirkungen der Selbstenttarnung des NSU auf die rechte Szene schätzte er gering ein. Die momentanen Probleme der NPD seien alle hausgemacht, Angriffe auf Flüchtlinge, Minderheiten und politische Gegner durch die gewaltbereite Szene an der Tagesordnung.
Juliane Karakayali beschäftigte sich vor allem mit der Reaktion der kritischen Öffentlichkeit auf die Enttarnung des NSU. Man sei dem Komplex vor allem mit einem Ohnmachtsgefühl begegnet, mit Ratlosigkeit und offenen Fragen: Was kann man tun? Reicht das Engagement aus angesichts der ungeheuren Entdeckungen? Warum passiere nicht mehr und wie könne man mit der Flut an Information und den dennoch vielen Leerstellen in der Aufklärung umgehen? Auch sei man sich unsicher gewesen, wie man auf den Prozess in München reagieren solle. Wie erhält man die Öffentlichkeit und die Forderung nach Information, damit sich die Prozessbeteiligten eben nicht dort „einrichten“ und ausmachen, wie sie es ohne größere Konflikte die „nächsten Jahren an jeweils drei Tagen miteinander aushalten“? Und was könne der Prozess in der Auseinandersetzung im Umgang mit institutionellem Rassismus liefern oder sei die Energie nicht etwa beim Thema „racial profiling“ besser aufgehoben?
Im interessantesten Teil ihres spannenden Statements ging es um die Frage, wo der NSU, der ja „kein UFO“ gewesen sei, in die deutsche Gesellschaft der späten 1990iger und beginnenden 2000er Jahre im Umgang mit Migration passe? Darüber wisse man wenig im Vergleich zu frühen 1990iger Jahren, in denen die Pogrome und Gewalttaten auf der Straße Stichwortgeber für „repressive Politik“ gewesen seien.
Mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts sei um die Jahrtausendwende ein „Meilenstein“ gelungen, trotz aller Einschränkungen. Die Reform verdeutlichte, dass die Menschen, die man als Gastarbeiter für die „Drecksarbeit“ geholt hatte, auch bleiben würden und gleiche Rechte nicht nur einfordern würden, sondern sie auch bekommen würden, zumindest für ihre Kinder. Die Taten des NSU könne man in dem Kontext auch als „Ausbürgerung durch Mord“ beschreiben. Die einseitigen Ermittlungen der Behörden hätten zudem
weitere „Markierungsprozesse“ ausgelöst und seien bis ganz unten bei den Leuten angekommen. Bewohner der Kölner Keupstraße (Nagelbombenanschlag 2004) berichteten, dass sie sich noch nie so als „andere“ gefühlt hätten wie nach den Ermittlungen, die die ganzen Vorurteilsgebilde gegen sie aktiviert hätten.
Eine Veränderung wolle sie dennoch hervorheben. Rassistisch motivierte Gewalt sei weiterhin an der Tagesordnung und auch die Ermittlungsmethoden der Behörden gerne mangelhaft. Allerdings würden sich die Familie der Opfer heute selbstbewusster gegen die Schlampereien wehren, ihre Recht und vor allem Aufklärung einfordern. Auch sei die Unterstützung für diese Familien und für Flüchtlinge heute größer als vor der Selbstenttarnung des NSU.
In der Diskussion ging es vor allem um die Frage, ob die Verstrickungen der Behörden in den NSU schon ausermittelt seien oder ob man noch eine „smoking gun“ finde. Speit wollte das nicht ausschließen, sah aber eher die Verfasstheit der deutschen Gesellschaft und den Alltag als Beleg dafür, dass einiges an „Staat“ im NSU stecke. Als er menschliche und triviale Gründe für das Verhalten einzelner Verfassungsschützer, besonders des hessischen V-Mann-Führers Andreas T., ins Spiel brachte, erntet er Unruhe und Widerspruch im Publikum. Zu sehr rüttelte er an manchen lieb gewonnenen Denkmustern.
Es zeigte aber auch, wie wenig man auch über zwei Jahre nach dem Banküberfall von Eisenach und dem Brand in der Frühlingsstraße in Zwickau über den Gesamtkomplex weiß. Man brauche viel Geduld, so das einhellige Statement am Ende der Diskussion kurz nach 22.00 Uhr.