München steht aufMünchner Verschwörungsszene läuft sich warm für den „Wutwinter“

Demonstration München steht auf. In dem Narrativ des „Great Reset“ gehen diverse Verschwörungserzählungen auf

Die wöchentlichen Demonstrationen rund um die Gruppe „München steht auf“ finden aktuell wieder mehr Zulauf, darunter sind in kleiner Zahl Neonazis, AfD-Anhänger, Reichsbürger und Identitäre. Auch in der Münchner Szene geht es schon länger nicht mehr nur um die Corona-Maßnahmen. Die Protagonisten sind besonders gut darin, teilweise menschenverachtende Botschaften sagbar zu machen.

Zum zweiten Mal startete die wöchentliche Mittwochsdemo von „München steht auf“ (MSA) im Herzen der Innenstadt am Marienplatz. Mit etwa 800 bis 900 Teilnehmern stieg die Beteiligung wieder an. Der Zug führte erneut die Maximilianstraße entlang und kreuzte mit dem Gärtnerplatz einen belebten Treffpunkt in Innenstadtnähe. Die Organisatoren sind noch weit weg vom Zuspruch wie im vergangenen Herbst und Winter und den eskalierten Demonstrationen auf der Ludwigstraße, allerdings laufen aktuell weit mehr Menschen mit als zur gleichen Zeit im vergangenen Jahr. Damals trafen sich am Tiefpunkt nur rund 60 Personen.

Auflösung des Gemeinwesens und Survival of the fittest

Das Thema Corona wird seit der grundsätzlichen Einigung zwischen Gesundheits- und Justizminister mehr in den Vordergrund gerückt. Besonders Marco Buschmann wird mit Blick auf Aussagen aus dem Frühjahr „Wortbruch“ vorgeworfen. Querdenken-Aktivist Markus Haintz nannte den „Kollegen“ deshalb in der Vorwoche einen Lügner. Die Szene besteht darauf, dass es, egal wie sich Infektionszahlen, Krankenhausbelegungen und Virus entwickeln, keine staatlichen Schutzmaßnahmen mehr geben dürfe. Sogar das Testen wird seit geraumer Zeit verteufelt.

Das ist nicht nur eine hochideologisierte Herangehensweise, es macht den Schutz zur Privatsache, was auf ein „Survival of the fittest“ hinauslaufen würde. Aber auch mit der Aussage, jeder solle nach zweieinhalb Jahren Pandemie „eigenverantwortlich“ entscheiden, ob und wie er sich gegen das Virus schützen möchte, ist es angesichts der Anfeindungen gegenüber maskentragenden Beteiligten, meist Journalisten, nicht weit her. Am Mittwoch wurde Buschmanns pragmatisches Einlenken gar zu einer „Beschädigung der Demokratie“ hochstilisiert.

„Friedensbewegte Impfgegner“ – Kombination der beiden Hauptthemen in einem Demoblock

Ähnlich erging es den Grünen in der Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine. Auf dem Papier bezieht „München steht auf“ keine Position für oder gegen eine der Kriegsparteien. Umgesetzt begünstigen die Forderungen allerdings alleine den russischen Angreifer und seine imperialistischen Großmachtbestrebungen und gegen die Verteidigungsfähigkeiten der Ukraine. So sollen alle Sanktionen fallen und keinerlei Waffen mehr geliefert werden. Nicht verwunderlich ist, dass die Aussagen des Pink-Floyd-Gitarristen Roger Waters von MSA positiv aufgriffen und der Musiker vor angeblich „unmenschlichen Angriffen“ in Schutz genommen wurde. Waters hatte Joe Biden vorgeworfen, den Krieg in der Ukraine zu schüren und ihn für die Dauer des Krieges verantwortlich gemacht. Der US-Präsident könne den Krieg innerhalb kürzester Zeit beenden. Der Musiker ist auch prominenter Unterstützer der in Teilen antisemitischen BDS-Bewegung, die zur Isolation Israels aufruft.

Die Positionierung der Organisatoren zum Konflikt in der Ukraine entspricht den Botschaften auf den von Anhängern mitgeführten Schildern und Fahnen. Hier wird einseitig die NATO für die Eskalation verantwortlich gemacht. An Putin adressierte Botschaften, den Angriff und die Gräueltaten seiner Soldaten und Söldner zu stoppen, finden sich dagegen nicht mal in der einfachsten Form wieder.

Teilnehmer und Organisatoren sind sich weitgehend einig, wem sie die Schuld geben bzw. Forderungen adressieren: Putin ist es nicht.

Die beiden inhaltlichen Hauptprotagonisten von „München steht auf“, Melchior Ibing und „Benny“, verstehen es, teilweise menschenverachtende Aussagen so oft zu drehen und wenden, dass sie sagbar erscheinen, weil sie Teile enthalten, die sie gegen Kritik scheinbar immunisieren.

Ich sage das ja nicht, aber ich sag es doch

So hatte bei einer früheren Veranstaltung „Benny“ den Mord an der Tankstelle in Idar-Oberstein formal verurteilt, das von der Gewalttat ausgehende Signal der Einschüchterung positiv aufgenommen. Formal bezeichnet Ibing den von Impfgegnern getragenen gelben Stern als geschmacklos, empört sich allerdings über das Verbot und die Strafverfolgung in Deutschland. Angeblich sei es in Israel möglich sei, diesen Vergleich zu erheben. Ebenso offen wird bei MSA auf den Nürnberger Kodex angespielt, eine nur unwesentlich mildere Form der Verharmlosung der Gräueltaten in den Konzentrationslagern, die aber im Gegensatz zum gelben Stern (noch) nicht strafrechtlich relevant ist. Entsprechend wurde auch am Mittwoch für einen Aufmarsch in Nürnberg zum 75. Jahrestag des Kodex geworben.

Eine Kritik von Anetta Kahane, Gründerin der Amadeu-Antonio-Stiftung, am strukturellen Antisemitismus von Verschwörungserzählungen mit den Vorstellungen einer geheimen Weltregierung unter Beteiligung prominenter Juden, die sich demokratische Regierungen als Marionetten halten würden, wird von Ibing an dem Abend komplett entkernt und so gedreht, dass er in den Raum stellen kann, es könne kein Antisemitismus sein, weil viele Israelis nach deutschem Recht als ungeimpft gelten würden.

Verharmlosung von Rassismus und Antisemitismus

Schon unterwegs hatte „Benny“ über Lautsprecher die Differenzierung nach Impfstatus zur „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ erklärt und damit auf eine Stufe gestellt mit Ideologien wie Antisemitismus und Rassismus oder der Abwertung von Obdachlosen. Wörtlich wurde von der „Vierten Impfung als biologisches Merkmal“ besprochen. Die reflexartig vorgetragene Distanzierung von MSA von „menschenfeindlichen Einstellungen aller Art“ hinderte wie in der Vergangenheit weder Neonazis, Identitäre, völkische Burschenschafter oder Reichsbürger an der Teilnahme. Auch von der AfD marschierten wieder einige Funktionäre mit, darunter der islamfeindliche Europaabgeordnete Bernhard Zimniok.

Melchior Ibing, zentraler Aktivist beim Auftakt am Marienplatz

Zurück am Marienplatz gab es noch einige Worte von „Benny“ zum Thema Hatespeech. Er folgte dabei seinem üblichen Muster. Er verurteilte formal Hass und Hetze im Netz, wenn die Polizei das allerdings nicht verfolge, dann kümmere sie sich wohl einer klaren Priorisierung folgend um die „direkteren und damit wichtigeren Verbrechen wie Körperverletzung und Diebstahl“. Im Sinn hatte der MSA-Aktivist dabei nicht die jüngsten Fälle, etwa den Suizid der österreichischen Ärztin Lisa-Maria Kellermayr oder den Rückzug von Wissenschaftlern aus den sozialen Netzwerken nach Drohkampagnen, sondern Jan Böhmermanns Anzeigentest. Hier hatten sich einige Beamte dermaßen einer Strafverfolgung verweigert, dass gegen sie wegen Strafvereitelung im Amt ermittelt wird.

Der Redner nutze den Part auch, um der Polizei zu danken. Etwas bessere Stimmung war vielleicht auch nötig. Zu Beginn der Veranstaltung hatte ein Teilnehmer – mit Hut und Herzchenbrille nach außen harmlos wirkend, wie die meisten Anhänger von MSA– anlasslos eine Gruppe Beamte verbal attackiert, bis hin zu Vernichtungsphantasien. Ob auf die Feststellung der Personalien auch ein Verfahren gegen den Teilnehmer erfolgt, war am Mittwochabend noch unklar.

Alle Fotos auf FLCIKR